Biografiearbeit
Montag, 9. Jan 2017 11:29 von Kathleen
Die eigene Lebensgeschichte als Kraftquelle für Heute und Morgen entdecken
Biografische Arbeit sehe ich als gegenwärtiges Wirken an einer guten Zukunft. Bewusst den Blick zurück zu richten unterstützt uns dabei, uns als Gewordene zu begreifen, rote Fäden und Brüche gleichermaßen als Nährstoffe unseres HierSeins wahrzunehmen. Wenn es uns besser gelingt, sowohl die einzigartige Kraft und Resilienz unserer Geschichte als auch die laufende Veränderung und Fließbewegung unserer Persönlichkeit zu würdigen, dann können wir präsent leben.
Weiter unten ist etwas zu lesen darüber, wie ich (in diesem Fall vor allem mit Kriegskindern) biografisch arbeite – zitiert aus meinem Beitrag in dem Sammelband
Ich fühle mich zum ersten Mal lebendig … – Traumasensible Unterstützung für alte Frauen
hg. von Paula e.V./M.Böhmer/K.Griese 2015 im Mabuse-Verlag
Nächste Termine: 19.2./19.3./23.4., Bonn, Kunststation
Aufstellungsarbeit und biografisches Schreiben für Frauen mit Lebensfragen
TagesWorkshop-Reihe, jeweils sonntags 10-17 Uhr
mit Anneke Burger (Psychologin + Systemische Therapeutin) und Kathleen Battke
Biografiearbeit
Wo „Geschichte“ das dokumentierte kollektive Gedächtnis von Gesellschaften ist, gilt „Erinnerung“ als die geistige Form von uns Einzelnen, Rechenschaft über unsere Vergangenheit abzulegen. Dem, was geschehen ist, wollen wir durch unser Erinnern Kohärenz abgewinnen – also Stimmigkeit, Nachvollziehbarkeit, vielleicht sogar Folgerichtigkeit. Der Sinn von Erinnerungsarbeit bleibt auch hier, ein tragfähiges Fundament für die Gestaltung von Zukunft zu gewinnen – unserer persönlichen, aber auch die der nächsten Generationen. Die Gegenwärtigkeit des Gewesenen (gerade, wenn es schrecklich war) ist dabei manchmal stärker, als es ertragbar scheint. Und die Unruhe, die das auslöst, können wir nicht immer unmittelbar als heilsam erkennen. Warum biografische Arbeit dennoch hilfreich wirken kann, zeigt ein knapper Einblick in drei ihrer Perspektiven:
Biografie, persönlich genommen: Frieden schließen mit sich selbst
„Leben ist das, was passiert, während du gerade andere Pläne machst“ – diese Beobachtung spricht mit angemessener Ironie aus, wie unsinnig es zu sein scheint, unser Dasein zu planen. Das Leben gibt diese Art von Planungssicherheit einfach nicht her.
Persönliche Biografiearbeit trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie den Blick insbesondere auf die Brüche und Krisen im Leben der Einzelnen lenkt. Sie betrachtet diese Risse im Alltag nicht als Misserfolge oder vermeidenswerte Fehler, sondern als sichtbare Wegmarken eines dauernden Wandels und damit auch als Anstöße für Veränderungsprozesse. Der bewusste Umgang mit Krisenpunkten hilft zu erkennen, welche Bedeutung wir Umbrüchen geben und welche neuen Impulse dadurch in unser Leben kommen.
Gerade unter diesem Gesichtspunkt wirkt Biografiearbeit für Frauen mit einer Kriegskindheit heilsam. Denn an blinden Flecken oder Schattenregionen, die oft Markierungen sind für ins Unsichtbare verschobene Krisenerlebnisse, ist deren Lebensgeschichte oft reich.
In den meisten von uns wohnt die Sehnsucht, ein heiles, schönes, sinnvolles Leben zu führen. Wir wollen verstehen, wo wir herkommen, was der rote Faden in unserer Biografie ist, was unser Wachstum fördert oder hindert. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte bringt mich als gehetztes, nach außen gerichtetes „Alltagswesen“ in Kontakt mit meinem inneren Wesenskern, mit meiner Kraftquelle. Der Anschluss an diese Kraftquelle, die meine ganz persönliche Wahrheit und den Grund meines Hierseins kennt, hilft mir, mein Leben von innen heraus zu leben. Aus dieser Perspektive lassen sich auch Krisen und Kontrollverluste später einarbeiten in das Gewebe des eigenen Lebens – zwar als Wunden, als Narben, aber eben als Teil des Ganzen.
Und schließlich ist ein essentielles Motiv für persönliche Biografiearbeit – auch wenn es noch immer ein Tabu darstellt: Wir möchten befreit Abschied nehmen, versöhnt sterben können. Die besondere Angst vor dem Tod bei Kriegskindern, die Medizin und Therapie bereits hat aufmerken lassen, beunruhigt besonders im Alter, wo das Ende immer unausweichlicher ins Blickfeld rückt. Die Philosophie der Lebenskunst nennt als entscheidendes Ziel für das Streben nach einem guten Leben, dass wir am Ende unser eigenes Leben bejahen können, dass wir einverstanden sein können damit, wie es gewesen ist. Ganz gelebt zu haben, zur eigenen Geschichte bewusst Ja sagen zu können, ermöglicht Loslassen.
Biografie, allgemein-menschlich gesehen: Lebensphasen und ihre Aufgaben
Die menschliche Entwicklung lässt sich unter verschiedensten Gesichtspunkten betrachten und in Phasen unterteilen. Für die Biografiearbeit hat sich in meiner Erfahrung die Betrachtung des Lebensrhythmus’ in Jahrsiebten als hilfreich erwiesen. Diese Rhythmik der persönlichen Entwicklung korrespondiert mit den Erneuerungszyklen unseres Organismus: Rund alle sieben Jahre sind wir rein rechnerisch gesehen „ein neuer Mensch“, da sich unsere Zellen stetig abbauen und neu bilden.
Im Siebenjahresrhythmus (wohlgemerkt ohne Dogmatik als hilfreiche Richtschnur angelegt) zeigen sich Aufgaben und Fragen der Lebensstufen – die „bio-psycho-spirituellen Rückkopplungsmechanismen, die unser Geschlecht mit speziellen Gaben ausstatten, welche sich erst im Laufe unseres Lebens nach und nach entfalten“, wie Joan Borysenko in ihrem Werk „Das Buch der Weiblichkeit. Der 7-Jahres-Rhythmus im Leben einer Frau“ (dtv 2006) dieses komplexe Geschehen nennt. Ein solcher Rhythmus hilft uns, uns selbst zu verstehen und gleichzeitig nicht alles gar zu „persönlich“ zu nehmen.
Betrachten wir kurz die Lebens-Jahrsiebte der Kriegskinder-Jahrgänge 1930-45:
Diese Frauen sind jetzt – um 2015 herum – zwischen 70 und Mitte 80. Wir haben es also vor allem mit dem elften Jahrsiebt – 70 bis 77 – und dem zwölften Jahrsiebt – 77 bis 84 – zu tun. Welche Fragen und Aufgaben hält das Leben aus der Perspektive der Biografiearbeit in dieser Zeit bereit?
Für das Jahrsiebt zwischen 70 und 77 ist nach Gudrun Burkhard[1] folgende Qualität prägend: „Der ältere Mensch hat jetzt wirklich das Vermögen, Ruhe auszustrahlen, andere zu segnen und ihnen Mitleid entgegenzubringen.“
Das ist natürlich leicht gesagt. Aber tatsächlich verstehe ich auch die Auseinandersetzung der Kriegskinder mit ihrer Geschichte so, dass ein hoffentlich letztes Mal Trümmer geräumt werden, damit das (Selbst-)Bild der wegen ihrer Weisheit und Freundlichkeit gefragten Alten mit Leben gefüllt werden kann.
Zugleich geht es in dieser Phase auch darum, das Alleinsein einzuüben, sich darauf vorzubereiten, vom Trubel der Außenwelt Abschied zu nehmen. Gebraucht werden und dienen ist das eine, Hinwendung zum Jenseits das andere, was jetzt ansteht.
Und schließlich heißt es für die sieben Jahre zwischen 77 und 84 bei Burkhard[2]: „Wir bemühen uns um ein neuerliches Streben nach der Wahrheit. (…) Mit Wahrheit und Gerechtigkeit müssen wir uns gegenübertreten, ein klares Bewusstsein haben und uns mit den Menschen versöhnen.“ Dieses Bedürfnis nach Versöhnung ist es, das viele Kriegskinder jetzt zum unbequemen Eintauchen in die eigene Geschichte treibt.
Die Aufgabe der größeren Lebensphase ab Mitte 60 formulieren BiografieforscherInnen so: Es gilt, immer mehr Abstand zu sich selbst zu gewinnen, in eine geistige Dimension einzutreten, sich als Mensch unter Menschen zu begreifen und die Verbundenheit zu allen und allem bewusst wahrzunehmen. Sich selbstlos in den Dienst einer guten Zukunft für die folgenden Generationen zu stellen wäre ein Ideal, das erst möglich wird, wenn eine tiefe Befreundung mit sich selbst und der eigenen Geschichte stattgefunden hat.
Die anthropologische Erinnerung daran mag auftauchen, dass es einmal die natürliche Aufgabe der alten Menschen – und oft genug der Frauen – war, Erinnerungen zu bewahren, Erfahrungen zu hüten und Wissen weiterzugeben, um den nächsten Generationen Überlebensstrategien beizubringen. Darauf beruhte in früheren Zeiten der Respekt vor den Alten, der heute (jedenfalls in unseren westlichen Gesellschaften) weitgehend verloren gegangen ist. Ich halte es für angebracht, diesen Respekt zurückzugewinnen.
Biografie, sozial betrachtet: Die alternde Gesellschaft und ihre Chancen
Ein Fakt der demografischen Entwicklung ist, dass wir durch medizinische Fortschritte und abgesicherte Lebensweise rapide an Lebensjahren gewinnen. Erstmals stellen die Älteren eine unübersehbar große Gruppe von agilen BürgerInnen im Land dar. Noch sind allerdings Probleme wie Altersarmut – insbesondere bei Frauen, insbesondere bei Kriegstöchtern – und mangelnde Teilhabe nicht gelöst; noch wird die wachsende Zahl der Älteren als Verschiebemasse und Marketing-Zielgruppe und weniger als mitgestaltende Gemeinschaft von erfahrenen Kämpferinnen oder abgeklärten Weisen wahrgenommen.
Aus meiner Sicht hat diese Demografie-Debatte viele bittere Facetten. Wozu sie aber die Chance eröffnet hat, ist dies: Wir können uns fragen, wie wir unser Alter auch gesellschaftlich, öffentlich gestalten wollen.
Sabine Bode hat in ihrem zweiten Buch „German Angst“[3] die Auswirkungen einer nicht aufgearbeiteten Kriegskindheit auf Politik und Gesellschaftsgestaltung in Deutschland beschrieben. Sie weist keine Schuld zu, lädt aber dazu ein, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und damit auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.
Auch so ist Biografiearbeit hilfreich und taugt sogar, wenn wir sie als zusammenhängende kulturelle Erzählung begreifen, für ein zukunftsträchtiges, Mut machendes Gesellschaftsbild: Als bewusste Verknüpfung meines Lebensfadens mit dem derer, die vor mir waren, die heute um mich sind und die nach mir kommen.
Biografiearbeit leisten heißt also, die eigene Lebensgeschichte als Quelle zu begreifen für Versöhnung und Heilung, für Sinn und Generationsfruchtbarkeit, als stärkende Gegenwärtigkeit des Vergangenen und als Einladung an eine gute Zukunft.[4] Kriegskinder bemühen sich darum, nicht die alten Traumata und entsprechende Verdrängungsstrategien weiterzugeben, sondern aus dem Leiden hilfreiche Haltungen für die Aufgaben der Zukunft herauszufiltern. Ich lasse das Leiden nicht gehen, bevor es mir nicht sein Geschenk offenbart hat, formulierte sinngemäß ein amerikanischer Rabbi jüngst in einem Fernseh-Interview einen Aspekt des jüdischen Umgangs mit Traumata. Aus dieser Haltung entspringt aus meiner Erfahrung auch die Bereitschaft von Kriegstöchtern, sich der eigenen Geschichte zu stellen: dem Schmerz ins Gesicht sehen, bis er mir eröffnet, wohin er mich führt.
[1] Gudrun Burkhard, Das Leben in die Hand nehmen – Arbeit an der eigenen Biografie, Verlag Freies Geistesleben 1997.
[2] Ebd.
[3] Sabine Bode, German Angst, Klett-Cotta 2006.
[4] siehe hierzu auch Verena Kast, Der Reichtum des Lebens. Wie die eigene Biografie zur Kraftquelle werden kann, erschienen als Titelgeschichte von Psychologie Heute, Heft 10/2010).