„Der unverstellte Blick“ – Töchter, Mütter und der Krieg
Dienstag, 13. Aug 2013 12:41 von Kathleen
Eine Buch-Besprechung / A Book Review:
Marlene Zinken (Hg.in): Der unverstellte Blick
Unsere Mütter (aus)gezeichnet durch die Zeit 1938 bis 1958. Töchter erinnern sich
Verlag Barbara Budrich, 2008, 2. Auflage
Das Buch in die Hand zu nehmen ist gleich schon ein Ereignis – das besondere Format, das Gewicht, die schon am Umschlag auffallende sorgsame, liebe- und anspruchsvolle Gestaltung sagen diesseits der Worte, dass es um etwas Kostbares, etwas mit Bedacht Erstelltes und Inhaltsschweres geht. Nichts für die schnelle Zwischendurch-Lektüre; keine Wegwerf-Literatur, die, kaum überflogen, schon wieder vergessen ist. Die stille Botschaft dieses Buches in meiner Hand: Achtung, hier wird keine leichte Kost verabreicht; stelle Dich auf Intimität und Schonungslosigkeit ein, liebe Leserin, lieber Leser; nimm, was du liest, mit Respekt zur Kenntnis und lass es Dir nahe kommen.
Töchter erinnern sich an ihre Mütter – ein für sich schon spannendes, unerschöpflich bewegendes Thema, gerade für BiografInnen wie mich. Hier richtet sich der Blick obendrein auf Mütter und Töchter aus der Phase zwischen 1938 und 1958, also um weibliche Eltern-Kind-Wahrnehmungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Ein Pulverfass!
27 Töchter – meist aus der Generation derer, die heute soziologisch „Kriegskinder“ genannt werden – erzählen von ihrer Mutter. Sie erzählen von ihrer Familie, von sich selbst, vom Leben zweier (oft dreier) Generationen in zwei extremen Jahrzehnten, deren Ende mittlerweile 55 Jahre zurückliegt. Je nachdem, wie ihr Verhältnis zur Mutter war, was sie erlebt haben und wie sie damit umgehen, sprechen sie nüchtern oder ausgeschmückt, persönlich oder distanziert, auf äußere Details konzentriert oder versunken in innere Welten; zornig, wehmütig, voller Liebe oder Zweifel; mit Schrecken und Würde und tastendem Fragen. Die Vielfalt der Tonlagen in den 27 Beiträgen ist bewegend. Das eigentlich Bewegende ist jedoch, dass diese Töchter, diese Kriegskinder überhaupt sprechen.
Das Schweigen war wie kaum etwas anderes prägend für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Fast schon unabhängig von dem, was Familien in den Ausnahme-Jahren erlebt haben, ob sie TäterInnen oder Opfer, MitläuferInnen oder WiderständlerInnen, unbeteiligt oder schwer betroffen waren – geschwiegen wurde darüber fast durchweg. Es war ein gesellschaftliches Schweigen, das durch jede private Haustür drang und in die Poren jeder einzelnen Familie sickerte. Diese geheimnisschwangere, tabugetränkte Stille im privaten wie im öffentlichen Raum verbindet die Generationen der Kriegskinder und KriegsenkelInnen über die Verschiedenartigkeit ihrer Erlebnisse hinweg.
Da ich selbst seit Jahren Kriegskinder und KriegsenkelInnen – überwiegend weibliche, aber auch männliche – auf ihrem Weg zu versöhnender Erinnerung begleite, unter anderem mit biografischem Schreiben, weiß ich, wie kostbar es ist, dass die Stimmen jetzt erklingen. Ich weiß auch, wie sehr es darauf ankommt, einen geschützten, Vertrauen spendenden Raum zu schaffen, damit Gedächtnis, Herz und Mund sich öffnen können. Dieser Raum ist Marlene Zinken als Herausgeberin und ihren Gefährtinnen in diesem Projekt ganz offenbar gelungen.
Jede Geschichte in diesem Buch ist besonders, jede ist einzigartig. Am Ende jedes einzelnen Beitrag atme ich auf und bin sicher: Wie gut, dass sie erzählt worden ist!
In meinen Seminaren wurde immer wieder sichtbar, wie wichtig es für die Teilnehmenden ist, in der eigenen Generation gehört zu werden, eine Heimat zu finden im „Du auch?“. Das Bezeugen des Erinnerns der anderen ist das Bezeugen der eigenen Erinnerung; wo ich selbst noch keine Worte finde für mein so gegenwärtiges Vergangenes, da findet es mein Gegenüber. In diesem Sinne verweben sich auch die 27 Mutter-Tochter-Geschichten bei aller Individualität zu einer einzigen; sie greifen ineinander und werden zur Erzählung einer Generation.
Dass die Zusammenstellung keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erhebt, widerspricht dem nicht – im Gegenteil; auch ich habe in meiner Arbeit festgestellt, dass nur radikale Anerkennung JEDER Lebensgeschichte aus der Falle von „dies ist mehr wahr, das weniger; dies ist bedeutsam, jenes weniger“ heraushilft.
„Das Wagnis begann mit dem bewussten Verzicht auf eine gezielte Vorauswahl der Autorinnen, mit dem Mut, auf das ‚Weitersagen‘ in Ost und West, in Frauenkreisen unterschiedlicher Sozialisation zu vertrauen, mit der Entschlossenheit, jedes anvertraute Erinnerungsbild in den Kanon aufzunehmen“, schreibt Marlene Zinken im Vorwort. Waghalsigkeit, Mut und der Verzicht auf Standard-Vorstellungen, Vertrauen und Entschlossenheit – das sind die Kräfte, die eben jenen befreienden, geschützten Raum zu schaffen in der Lage sind, in dem sich Heilung (durch Erzählen, durch Zuhören, durch Schreiben) ereignen kann.
Und die Schwester von Mut und Entschlossenheit ist die kreative Unsicherheit – die Fähigkeit zu fragen. Das Nicht-Wissen, das In-der-Schwebe-Halten, die Offenheit für die vielen Arten möglicher Antworten. Die Bereitschaft, faktische Sicherheit für Echtheit zu opfern.
Lauschend suchen die Beitragenden nach Nähe zu ihrer Familiengeschichte; die fragende Haltung scheint durch viele Sätze hindurch, die an der Oberfläche nach Aussagen, nach Eindeutigkeit aussehen möchten. „Meine Leseempfehlung lautet: möglichst viele Fragen an unsere Mütter, an ihre und an unsere Vergangenheit zuzulassen.“, sagt Annette Kuhn (die u.a. dieses Buch als Band 1 der Schriften aus dem Haus der Frauengeschichte in Bonn mit herausgibt) in ihrem einführenden Beitrag „Erinnerungen in der Spirale der Zeit“. Fragend und auf das Echo unserer ehrlichen Fragen lauschend bleiben wir auf dem Weg des Verstehens, der wohl so bald nicht endet.
Wie auf diese zarte, tastende, zugleich kühne Art persönliches Leben zum Gesellschaftsmosaik wird; wie sich mit der Frage „Wo war Licht im Dunkeln?“ (so der Titel einer meiner Schreibwerkstätten) die Über-Lebenskräfte, „das Geheimnis des Überstehens“ (Marlene Zinken im Klappentext des Buches), der mitmenschliche Gestaltungswille in Richtung Zukunft aufspüren lassen – das hat mich vor vielen Jahren zur Zeit-Biografin werden lassen. Und jetzt zu einer Empfehlerin dieses Buches.
Würde ich gebeten, Anregungen für eine nächste Auflage zu geben, dann wären das zwei pragmatische Punkte:
Wenn ich als erstes im Buch – noch bevor ich ein paar Worte über das Konzept erfahre – das Inhaltsverzeichnis aufschlage, bin ich verwirrt. Es gibt Kapitel mit Überschriften, deren Bedeutung und Reihenfolge sich mir nicht erschließt; es folgen Titel und Namen, oft zwei Namen, mit denen ich als „Erstbesucherin“ des Buches wenig anzufangen weiß. Ich wünschte mir, anfangs mehr an die Hand genommen worden zu sein, bevor ich nach Lektüre des Vorworts und der Leseempfehlungen von Annette Kuhn sechs Seiten später verstanden habe, wie das Buch aufgebaut ist.
Es könnte schon helfen, bei einer nächsten Auflage das Vorwort VOR das Inhaltsverzeichnis zu setzen.
Der zweite Punkt bezieht sich noch einmal auf die Kapitelüberschriften (Zuflucht bis alle Stürm‘ vorübergehn – Schwester Erde – Der unverstellte Blick – Mit anderen Augen – Licht, soviel die Dunkelheit zulässt – Leben in Räumen zwischen den Räumen – Nach-Kriegs-Wehen): Woher kommen sie? Nicht in jedem Fall der sieben Kapitel erschließt sich mir die Bedeutung des Titels in Bezug auf die darin enthaltenen Lebensgeschichten oder auch nur dessen Beziehung zu der Kapitel-eröffnenden Kombination aus Bild/Skulptur und Gedicht. Die Leserin, der Leser sieht sich in den künstlerischen Raum jenseits der schnellen Erklärungen verwiesen, was sicher auch ein Anliegen des Werkes ist – und wünscht sich doch, um sich auf die Geschichten einlassen zu können, einen Hauch mehr Zugänglichkeit zu dem, was die Macherinnen des Buches zu ihren Entscheidungen geführt hat. So würde eine weitere Ebene an Nähe, Verbindung, Verstehen aktiviert.
Mein Buch „TrümmerKindheit. Erinnerungsarbeit und biografisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel“ kommt ja nun auch bald – keine 3 Wochen mehr…